Zur Erschütterung des Beweiswerts von im Ausland erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner

Zur Erschütterung des Beweiswerts von in Deutschland erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gibt es mittlerweile reichlich Rechtsprechung und auch Veröffentlichungen. Welche Regeln gelten aber für im Ausland erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen?

 

Anm.: Dieser Blogbeitrag ist in leicht abgewandelter Form auch als Beitrag im Expertenforum Arbeitsrecht (#EFAR) erschienen: Zur Erschütterung des Beweiswerts von im Ausland erstellten AU-Bescheinigungen 


Das Thema

Auch wenn in Deutschland erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen die Regel sind, kommt es in der Praxis immer wieder vor, dass Arbeitnehmer ihren Arbeitgebern Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von im Ausland praktizierenden Ärzten vorlegen. Dies geschieht häufig in Zusammenhang mit einem Urlaubsaufenthalt der Arbeitnehmer. Das BAG hat in einem aktuellen Fall mit Bezug zum Nicht-EU-Ausland entschieden, welche Grundsätze für die Behandlung solcher Bescheinigungen gelten.

 

Wiederholung: Grundsätze für in Deutschland erstellte Bescheinigungen

Einer in Deutschland erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt bekanntlich ein hoher Beweiswert zu. Normalerweise kann der Beweis, dass die Voraussetzungen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gegeben sind, als erbracht angesehen werden, wenn der Arbeitnehmer eine ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt bzw. der Arbeitgeber diese elektronisch abruft. Weitere Angaben muss der Arbeitnehmer nicht machen.

 

Dieser Beweiswert kann aber erschüttert werden. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und notfalls beweist, die Zweifel an der Erkrankung ergeben. Dabei dürfen keine überhöhten der Anforderungen an den Arbeitgeber gestellt werden, da er in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und nur in eingeschränktem Maß in der Lage ist, Indiztatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzutragen.

 

Die Erschütterung des Beweiswertes hat nicht zur Folge, dass der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung hat, sondern lediglich, dass der Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Dem Arbeitnehmer verbleibt also die Möglichkeit, die Voraussetzungen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung also anders als durch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung darzulegen und ggf. zu beweisen

 

Anders als früher erleichtert die Rechtsprechung dem Arbeitgeber mittlerweile die Erschütterung des Beweiswertes. Wesentlicher Ausgangspunkt für diese neuere Entwicklung war das Urteil des BAG vom 8.9.2021 (5 AZR 149/21). Die hierauf folgende Entwicklung der Rechtsprechung wurde bereits in den Blog-Beiträgen Entgeltfortzahlung – Teil 1: Erschütterter Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und Erschütterter Beweiswert der unter Verstoß gegen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung? sowie Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen: Gerichte schärfen Kriterien vorgestellt. 

 

Aktuelle BAG-Entscheidung zu einer im nicht-EU-Ausland erstellten Bescheinigung

In einem aktuellen Urteil vom 15.1.2025 (5 AZR 284/24, bisher liegt nur eine Pressemitteilung vor) hatte das BAG hingegen darüber zu entscheiden, was für eine im nicht-EU-Ausland erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gilt.

 

Das BAG hatte über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:

  • Der Arbeitnehmer legte der Arbeitgeberin in den Jahren 2017, 2019 und 2020 im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinen Urlauben Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor.
  • Vom 22.8.2022 bis zum 9.9.2022 hatte der Arbeitnehmer Urlaub, den er in Tunesien verbrachte.
  • Am 7.9.2022 teilte der Arbeitnehmer der Arbeitgeberin per E-Mail mit, er sei bis zum 30.9.2022 krankgeschrieben. Beigefügt war ein Attest eines tunesischen Arztes in französischer Sprache vom 7.9.2022. Laur dem Attest habe der Arzt den Arbeitnehmer Kläger untersucht, leide an „schweren Ischialbeschwerden” im engen Lendenwirbelsäulenkanal, benötige 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30.9.2022 und dürfe sich während dieser Zeit nicht bewegen oder reisen.
  • Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Arbeitnehmer am 8.9.2022 ein Fährticket für den 29.9.2022. An diesem Tag reiste er mit seinem PKW zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück.
  • Danach legte der Arbeitnehmer der Arbeitgeberin eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 4.10.2022 vor. Darin wurde ihm Arbeitsunfähigkeit bis zum 8.10.2022 bescheinigt.
  • Auf Monierung der Arbeitgeberin, dass es sich bei dem Attest vom 7.9.2022 nicht um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handele, legte der Arbeitnehmer eine erläuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17.10.2022 vor. Darin bescheinigte der Arzt, den Arbeitnehmer am 7.9.2022 untersucht zu haben. Weiter heißt es: „Er hatte eine beidseitige Lumboischialgie, die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage vom 07/09/2022 bis zum 30/09/2022 erforderlich machte.“
  • Die Arbeitgeberin lehnte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab und kürzte die Vergütung für September 2022. Diese Vergütung machte der Arbeitnehmer mit seiner Klage geltend.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das LAG München (Urteil vom 16.5.2024 – 9 Sa 538/23) hat das Urteil abgeändert und die Arbeitgeberin zur Zahlung verurteilt.

 

Das BAG hat das Urteil des LAG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückzuverweisen. Dies hat das BAG wie folgt begründet:

  • Das LAG hat zwar laut BAG im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die im Nicht-EU-Ausland ausgestellt wurde, grundsätzlich der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zukommt, wenn sie erkennen lässt, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden hat.
  • Der Beweiswert einer solchen im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann erschüttert sein, wenn nach der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung des zu würdigenden Einzelfalls Umstände vorliegen, die zwar für sich betrachtet unverfänglich sein mögen, in der Gesamtschau aber ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Bescheinigung begründen. Insoweit gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
  • Diese rechtlich gebotene Gesamtwürdigung hat das LAG nach Ansicht des BAG jedoch unterlassen, sondern die von der Arbeitgeberin vorgetragenen tatsächlichen Umstände nur als jeden Aspekt einzeln und isoliert betrachtet. In der Gesamtschau begründen die einzelnen Umstände des Falles laut BAG jedoch, selbst wenn man sie – wie das LAG – jeweils für sich betrachtet als unverfänglich ansehen wollte, ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
  • Das hat zur Folge, dass nunmehr der Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit trägt. Das LAG wird nunmehr hierzu (also nicht mehr zum Beweiswert) weiter zu verhandeln und zu entscheiden haben.

Exkurs: Grundsätze bei einer im EU-Ausland erstellten Bescheinigung?

In der aktuellen Entscheidung stellt das BAG ausdrücklich nur auf im Nicht-EU-Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab. Die sich danach zwangsläufig aufdrängende Frage lautet: Gilt dasselbe auch für im EU-Ausland erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen? 

 

Der vom BAG aktuell entschiedene Fall erinnert aber, wie einige Stimmen etwa in der Literatur (vgl. Bauer FD-ArbR 2025, 802319, beck-online) zu Recht anmerken, an den berühmten vom BAG und EuGH entschiedenen Paletta-Fall aus den 1990er Jahren (BAG, Urteil vom 19.2.1997 – 5 AZR 747/93, im Anschluss an EuGH, Urteil vom 3.6.1992 – C-45/90 – Paletta I; siehe danach auch BAG, Beschluss vom 27.4.1994 – 5 AZR 747/93 (A) und im Anschluss an EuGH, Urteil vom 2.5.1996 – C-206/94 – Paletta II; sodann BAG, Urteil vom 19.2.1997 – 5 AZR 747/93). Diese Rechtsprechung legte die Grundsätze für im EU-Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen fest. Und diese Grundsätze sind für Arbeitgeber strenger:

  • Es gelten danach nicht die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland bzw. einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
  • Denn danach reicht es nicht aus, dass der Arbeitgeber Umstände beweist, die nur zu ernsthaften Zweifeln an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben.
  • Vielmehr trägt der Arbeitgeber die Beweislast dafür, dass der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig krank war. Mit den Worten des EuGH und BAG ist es dem Arbeitgeber nicht verwehrt, Nachweise zu erbringen, anhand deren das Gericht ggf. feststellen kann, dass der Arbeitnehmer missbräuchlich oder betrügerisch eine Arbeitsunfähigkeit gemeldet hat, ohne krank gewesen zu sein.
  • Allerdings hat das BAG den Arbeitgeber nicht darauf beschränkt, den Beweis dafür unmittelbar, etwa durch Vernehmung des Arztes, führen zum müssen, sondern auch – entsprechend den allgemeinen Beweisregeln – auch einen Indizienbeweis, also einen Beweis über (Hilfs)Tatsachen, aus denen auf das Vorliegen der zu beweisenden rechtserheblichen Tatsache zu schließen ist, als zulässig angesehen. Auch im Rahmen seiner Ausführungen zur freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO hat das BAG versucht, es dem Arbeitgeber zu ermöglichen, seiner Beweislast nachzukommen. Jdf. im konkreten Paletta-Fall hatte dies dem Arbeitgeber im Ergebnis seinerzeit auch geholfen (vgl. LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 9.5.2000 – 10 Sa 85/97).

Es wird in Frage gestellt, ob diese strengeren Grundsätze für im EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auch weiterhin gelten. Laut einigen Stimmen in der Literatur spreche weiterhin für die strengen Grundsätze, dass die zugrundeliegenden europäischen Regelungen mittlerweile zwar abgelöst worden seien (statt EWG-VO Nr. 1408/71 nunmehr VO (EG) Nr. 883/2004 iVm der VO (EG) Nr. 987/2009), sich an den wesentlichen Verfahrensregelungen inhaltlich aber sich nichts geändert habe. Dagegen könne man aber anführen, dass die im Ausland ausgestellte Bescheinigung nunmehr aber (nur) dieselbe Rechtsgültigkeit wie eine im zuständigen Mitgliedstaat ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hat (vgl. Art. 27 Abs. 8 VO (EG) Nr. 987/2009). Damit wäre der Weg für differenzierende nationale Betrachtung offen (vgl. zum Vorstehenden ErfK/Reinhard, 25. Aufl. 2025, EFZG § 5 Rn. 28; Schaub ArbR-HdB/Linck, 20. Aufl. 2023, § 98. Rn. 114; MüKoBGB/Müller-Glöge, 9. Aufl. 2023, EFZG § 3 Rn. 84). Es ist also durchaus möglich, dass die Rechtsprechung künftig annimmt, dass auch für eine im EU-Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gelten.

 

Einordnung

Mit der neuen Entscheidung bestätigt das BAG seine schon etwas ältere Rechtsprechung (BAG, Urteil vom 20.2.1985 – 5 AZR 180/83; BAG, Urteil vom 19.2.1997 – 5 AZR 83/96; vgl. auch LAG Hamm, Urteil vom 8.6.2005 – 18 Sa 1962/04). Auch weiterhin gilt, dass für eine im Nicht-EU-Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gelten. Einzige zusätzliche Voraussetzung ist, dass die Bescheinigung erkennen lassen muss, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden hat.

 

Da die neuere Rechtsprechung dem Arbeitgeber die Erschütterung des Beweiswertes mittlerweile erleichtert, gilt dies also auch für im Nicht-EU-Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Der vom BAG entschiedene Fall mit der vom BAG angenommenen Erschütterung des Beweiswertes ist ein anschauliches Beispiel hierfür.

 

Das BAG hat in der aktuellen Entscheidung nicht entschieden und nichts dazu ausgeführt sowie auch nicht ausführen müssen (jdf. ausweislich der Pressemitteilung), welche Grundsätze bei einer im EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gelten. Nach der in den 1990er Jahren ergangenen Rechtsprechung sind die Grundsätze hier bisher strenger. Es reicht hier bisher nicht aus, dass der Arbeitgeber Umstände beweist, die nur zu ernsthaften Zweifeln an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Vielmehr trägt der Arbeitgeber bislang die Beweislast dafür, dass der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig krank war. Es ist derzeit offen, ob die Rechtsprechung künftig hieran etwas ändern wird. Es wäre begrüßenswert, wenn sich das BAG in den bisher nicht veröffentlichten Urteilsgründen seiner aktuellen Entscheidung auch dazu nebenbei – in einem sog. obiter dictum – äußern würde, was allerdings nicht ohne Weiteres erwartet werden kann.

DR. ARTUR KÜHNEL
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
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E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de

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