Entgeltfortzahlung nur bei Angaben zur Krankheit? – Teil 1: erschütterter Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner

Die Auffassung, dass ein Arbeitnehmer bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit keine Angaben zu seinen Gesundheitsdaten machen müsse, sondern einfach auf die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verweisen könne, ist recht verbreitet. Dieser Beitrag und der demnächst erscheinende Folgebeitrag zeigen aber auf, dass dies nicht ausnahmslos gilt. Nach einer kurzen Einführung werden – auch anhand aktueller Rechtsprechung – zwei Fallgestaltungen vorgestellt, in denen solche Angaben doch gefordert werden können, konkret: bei Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Teil 1) und bei einer sog. Fortsetzungserkrankung (Teil 2).

 

Anm.: Dieser Blogbeitrag ist in leicht abgewandelter Form auch als Beitrag im Expertenforum Arbeitsrecht (#EFAR) erschienen:  Entgeltfortzahlung – Teil 1: Erschütterter Beweiswert der AU-Bescheinigung


Das Thema

Zwar ist der Arbeitnehmer bei der Geltendmachung von Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gemäß § 3 EFZG und auch bei Mitteilung/Nachweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit gemäß § 5 Abs. 1 EFZG im Grundsatz nicht verpflichtet, sich zur Art seiner Erkrankung und deren Ursache zu äußern. Jedoch gilt (auch) hier: „Keine Regel ohne Ausnahmen.“

 

Beispielsweise muss der Arbeitnehmer Angaben machen, soweit dies erforderlich ist, damit der Arbeitgeber bei Erkrankungen Schutzmaßnahmen für Andere ergreifen oder bei einer Schädigung durch einen Dritten diesen in Regress nehmen kann (vgl. § 6 Abs. 2 EFZG).

 

In Ausnahmefällen besteht also sehr wohl eine Verpflichtung des Arbeitnehmers, Angaben zu seinen Gesundheitsdaten machen. Zur Klarstellung: Mit „Verpflichtung“ ist in diesem Zusammenhang in der Regel die sog. Obliegenheit gemeint: Der Arbeitnehmer kann nicht gezwungen werden, erleidet aber Rechtsnachteile, wenn er die Verpflichtung nicht befolgt.

 

Zu so einer Verpflichtung kann es aber auch bei Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und bei der sog. Fortsetzungserkrankung kommen.

 

Hoher Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Beweis der Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Übermittlung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt (§ 5 Abs. 1 S. 2 EFZG bzw. § 5 Abs. 1a S. 2 EFZG). Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist hierzu das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel. Ihr kommt daher ein hoher Beweiswert zu. Normalerweise kann der Beweis daher als erbracht angesehen werden, wenn der Arbeitnehmer diese vorlegt. Weitere Angaben muss er nicht machen.

 

Erschütterung des Beweiswertes

Jedoch kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und notfalls beweist, die Zweifel an der Erkrankung ergeben. Dies hat zur Folge, dass der Bescheinigung dann kein Beweiswert mehr zukommt. Es gibt einige, dies konkretisierende Entscheidungen aus der Vergangenheit, die hier nicht näher dargestellt werden. Vielmehr wird die dazu ergangene jüngere Rechtsprechung vorgestellt.

 

So hat das BAG in seinem Urteil vom 8. September 2021 (5 AZR 149/21) entschieden, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttert sein kann (und dies im konkreten Fall bejaht), wenn der Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis kündigt und am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben wird, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst. In der Praxis wird das zum Teil als „gewisse Ermunterung“ für Arbeitgeber gewertet. Diese bräuchten sich bei handgreiflichen Zweifeln am Bestehen von Arbeitsunfähigkeit nicht alles gefallen lassen, auch wenn dies nicht bedeute, dass man willkürlich die Entgeltfortzahlung verweigern könne (siehe dazu und zum Urteil des BAG etwa den #EFAR-Beitrag „Ich bin dann mal weg”: Wenn Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gleichzeitig kommen).

 

Im Nachgang zum Urteil des BAG sind einige instanzgerichtliche Entscheidungen ergangen, die Hinweise dafür enthalten, wann eine Erschütterung des Beweiswertes anzunehmen ist:

  1. Objektiv mehrdeutige, plausibel erklärbare Sachverhalte (z.B. Eindruck eines „aufgeräumten Büros“, Zurücklassen von Büroschlüsseln) sind in der Regel nicht geeignet, ernsthafte Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu begründen.
  2. Möchte ein Arbeitgeber mit der Entfernung privater Gegenstände aus dem Betrieb belegen, dass ein Arbeitnehmer keinerlei Arbeitsleistung mehr habe erbringen wollen, muss er die Gegenstände benennen, welche der Arbeitnehmer entfernt hat. Die pauschale Behauptung fehlender privater Gegenstände ist nicht geeignet, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.
  1. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann grundsätzlich auch dadurch erschüttert werden, dass der Arbeitnehmer sich bei Erhalt einer Kündigung unmittelbar zeitlich nachfolgend – „postwendend“ – krank meldet bzw. eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreicht. Das gilt insbesondere dann, wenn der gesamte Zeitraum der Kündigungsfrist – auch durch mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – lückenlos abgedeckt wird.
  2. Meldet sich der Arbeitnehmer zunächst krank und erhält erst dann eine Kündigung, fehlt es an dem für die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung notwendigen Ursachenzusammenhang.
  3. Allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben ist, am unmittelbar darauffolgenden Tag gesundet und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt, erschüttert ohne Hinzutreten weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in der Regel nicht.

In einem befristeten Arbeitsverhältnis kann der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unter Umständen dadurch erschüttert sein, dass diese sich durchgängig (nahezu) genau über die letzten sechs Wochen vor dem vereinbarten Ende des Arbeitsverhältnisses erstrecken.

Ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung können sich daraus ergeben, dass eine am Folgetag der Eigenkündigung des Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt. Das gilt auch dann, wenn die gesamte Dauer der verbliebenen Kündigungsfrist durch eine Erst- und mehrere Folgebescheinigungen abgedeckt wird.

  • LAG Niedersachsen Urt. v. 9.5.2022 – 4 Sa 505/21 (beim BAG anhängig unter dem Az. 5 AZR 335/22; mündliche Verhandlung terminiert für 28.6.2023):
  1. Auch wenn es grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist, dass ein Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen kann – dies bleibt hier ausdrücklich offen – , gilt dies jedenfalls nicht für jeden Verstoß gegen die Richtlinien (hier: Pflichten zur Angabe von Diagnosen usw., die nur ggü. Krankenkasse bestehen).
  2. Nicht jede Arbeitsunfähigkeit während der Kündigungsfrist erschüttert den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Folgen der Erschütterung des Beweiswertes

Zu den Folgen der Erschütterung des Beweiswertes hat das BAG in der oben genannten Entscheidung vom 8.9.2021 ausgeführt:

 

„Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substanziierter Vortrag z.B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden (…). Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Soweit er sich für die Behauptung, aufgrund dieser Einschränkungen arbeitsunfähig gewesen zu sein, auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbindet. …“

 

Im konkreten Fall genügte der Vortrag der Klägerin nach Meinung des BAG diesen Anforderungen nicht.

 

Fazit

U.a. bei Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung muss ein Arbeitnehmer konkrete Angaben zu seinen Gesundheitsdaten machen, wenn er keine Rechtsnachteile erleiden – konkret: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht verlieren – will.

 

Im demnächst erscheinenden Folgebeitrag (Teil 2) wird als weitere Fallgestaltung für ggf. nötige Angaben zu Gesundheitsdaten die sog. Fortsetzungserkrankung nebst aktueller Rechtsprechung vorgestellt.

DR. ARTUR KÜHNEL
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
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E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de

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