Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
Im vorliegenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob die vom EuGH angenommene Pflicht der Arbeitgeber zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu einer erleichterten Durchsetzung von deren Ansprüchen auf Überstundenvergütung führen wird.
Dass die (komplette) Nichteinhaltung dieser Pflicht zur Zeiterfassung genau zu so einer erleichterten Durchsetzung führen soll, hat das Arbeitsgericht Emden bereits jüngst entschieden (ArbG Emden, Urteil vom 20. Februar 2020, 2 Ca 94/19).
EuGH fordert Einführung der Zeiterfassung
Nach dem viel diskutierten Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18) müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann (Pflicht zur Zeiterfassung). Insoweit hat der EuGH festgestellt, dass ohne ein solches System weder die Zahl der vom Arbeitnehmer tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sowie ihre zeitliche Lage noch die über die gewöhnliche Arbeitszeit hinausgehende, als Überstunden geleistete Arbeitszeit objektiv und verlässlich ermittelt werden kann. Dies aber sei zwingend erforderlich.
Das Urteil wurde bereits vielerorts umfänglich besprochen, was an dieser Stelle nicht noch einmal erfolgen soll. Bisher wird überwiegend vertreten, dass die Pflicht zur Zeiterfassung erst eines gesetzgeberischen Tätigwerdens in Deutschland bedarf. Das zuständige Bundesarbeitsministerium hat einen entsprechenden Gesetzesentwurf zur Umsetzung der Verpflichtung angekündigt; die Arbeiten hieran wurden aufgrund vorrangigen Regelungsbedarfs in der derzeitigen „Corona-Krise“ verständlicherweise zunächst zurückgestellt. Es ist aber davon auszugehen, dass ein entsprechendes Gesetz in absehbarer Zukunft kommen wird. Ob es tatsächlich zutrifft, dass die Pflicht zur Zeiterfassung erst eines gesetzgeberischen Tätigwerdens bedarf, soll an dieser Stelle ebenfalls nicht weiter problematisiert werden. Es gibt allerdings erste Arbeitsgerichtsentscheidungen, die davon ausgehen, dass die Pflicht des Arbeitgebers zur Zeiterfassung bereits jetzt besteht, es also nicht erst eines gesetzgeberischen Tätigwerdens bedarf (siehe hierzu das Urteil des Arbeitsgerichts Emden vom 20. Februar 2020, 2 Ca 94/19, sowie den EFAR-Beitrag Arbeitszeiterfassung: Arbeitsgerichte überholen Gesetzgeber).
Im Folgenden wird zum Zwecke dieses Beitrages der Einfachheit halber von einer (mindestens künftigen) Pflicht der Arbeitgeber zur Zeiterfassung entsprechend der Vorgaben des EuGH ausgegangen. Das bedeutet, dass Arbeitgeber die Zahl der von den Arbeitnehmern tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden objektiv und verlässlich erfassen müssen (sowie dass das hierfür genutzte System zugänglich ist). Der den Mitgliedstaaten und damit auch Deutschland eröffnete Spielraum zur Regelung konkreter Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Zeiterfassungssystems insbesondere hins. Besonderheiten, wie jeweiliger Tätigkeitsbereich und Eigenheiten von Unternehmen (wie ihre Größe), bleibt vorliegend unberücksichtigt.
BAG: abgestufte Darlegungs- und Beweislast
Im Überstundenprozess gilt – nicht anders als im Prozess auf Vergütung tatsächlich geleisteter Arbeit in der Normalarbeitszeit – nach der ständigen Rechtsprechung des BAG eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast (vgl. nur BAG vom 26. Juni 2019, 5 AZR 452/18, m.w.N.): Dabei genügt der Arbeitnehmer auf der ersten Stufe der Darlegung seiner Vortragslast, indem er vorträgt, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat. Auf diesen Vortrag muss der Arbeitgeber substantiiert erwidern und im Einzelnen vortragen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen hat und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen – nicht – nachgekommen ist. Trägt er nichts vor oder lässt er sich nicht substantiiert ein, gelten die vom Arbeitnehmer vorgetragenen Arbeitsstunden als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).
Der Anspruch auf Vergütung von Überstunden setzt neben deren Leistung zudem voraus, dass die Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen sind. Die Darlegungs- und Beweislast hierfür trägt der Arbeitnehmer (vgl. etwa BAG vom 10. April 2013, 5 AZR 122/12).
BAG: Besonderheiten bei Zeiterfassung
In seiner Entscheidung vom 26. Juni 2019 (5 AZR 452/18) hat das BAG die Auswirkungen einer Zeiterfassung auf diese Darlegungs- und Beweislast zu beurteilen gehabt.
In dem zu entscheidenden Fall hielt der Arbeitnehmer nach Vorgabe der Arbeitgeberin seine Arbeitszeit in Zeiterfassungsbögen fest. Diese enthielten neben der täglichen Arbeitszeit – bezogen jeweils auf den Monat – die Sollarbeitszeit, die erbrachte Arbeitszeit und einen Saldo. Die Zeiterfassungsbögen wurden von Vertretern der Arbeitgeberin unter „Datum, Unterschrift: Vorgesetze/r“ abgezeichnet. Die Arbeitgeberin hat u.a. bestritten, dass der Arbeitnehmer Überstunden in dem von ihm behaupteten Umfang geleistet habe und diese von ihr angeordnet, gebilligt oder geduldet worden seien. Wörtlich hat das BAG ergänzend zu seinen allgemeinen Rechtssätzen zur abgestuften Darlegungs- und Beweislast (auszugsweise) Folgendes ausgeführt:
„Bei einer derartigen Zeiterfassung – unabhängig davon, welchem Zweck sie dienen soll – stellt der Arbeitgeber mit der Unterzeichnung der Aufzeichnungen eine sich daraus ergebende Überstundenleistung zunächst streitlos. Zwar wird ihm damit im Überstundenprozess regelmäßig nicht der Nachweis abgeschnitten, dass die von ihm abgezeichneten Arbeitsstunden vom Arbeitnehmer tatsächlich nicht wie festgehalten geleistet wurden. Jedoch genügt der Arbeitnehmer in einem solchen Falle der ihm im Überstundenprozess obliegenden Darlegungslast für die Leistung von Überstunden auf der ersten Stufe schon dadurch, dass er schriftsätzlich die vom Arbeitgeber abgezeichneten Arbeitsstunden und den sich daraus ergebenden Saldo darlegt. Auf diesen Vortrag muss der Arbeitgeber im Rahmen der abgestuften Darlegungslast substanziiert erwidern, dass, aus welchen Gründen und in welchem Umfang die von ihm oder einem für ihn handelnden Vorgesetzten des Arbeitnehmers abgezeichneten Arbeitsstunden nicht geleistet wurden oder der behauptete Saldo sich durch konkret darzulegenden Freizeitausgleich vermindert hat.
(…), dass nach derzeitigem Verfahrensstand die weitere Voraussetzung für die Vergütung von Überstunden, nämlich die arbeitgeberseitige Veranlassung und Zurechnung (vgl. …) gegeben ist. Denn die Bekl. hat die vom Kl. auf den Zeiterfassungsbögen festgehaltenen Arbeitszeiten durch den Bezirksgeschäftsführer oder dessen Stellvertreterin abgezeichnet und damit jedenfalls gebilligt (vgl. …). Dabei ist es unerheblich, ob – wie das LAG ausführt – mit der Unterzeichnung eine „Vergütungspflicht konstituiert“ werden sollte oder nicht. Entscheidend ist allein, dass mit der Abzeichnung der erfassten Arbeitszeit und der monatlichen Salden der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zu erkennen gibt, dass er mit der erfolgten Überstundenleistung einverstanden ist.“
Auswirkungen auf Überstundenprozess
Aus der vorgenannten Entscheidung des BAG können – mit Blick auf die vom EuGH angenommene Pflicht zur Zeiterfassung – folgende Schlussfolgerungen gezogen werden:
- Bereits nach bisherigem Verständnis kann eine Zeiterfassung die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess zugunsten des Arbeitnehmers beeinflussen.
- Es ist dabei unerheblich, welchem Zweck die Zeiterfassung dient.
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- Dies ist insofern von Bedeutung, da der EuGH sich in seinem Urteil vom 14. Mai 2019 (C-55/18) „nur“ zu arbeitsschutzrechtlichen Aspekten der Arbeitszeit gemäß der Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88 geäußert hat und diese Richtlinie (mit Ausnahme des in ihr geregelten Falls des bezahlten Jahresurlaubs) grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet.
- Daraus folgt: Auch ein System zur Erfassung der Arbeitszeit i.S.d. Arbeitsschutzrechts (z.B. ArbZG) kann im Streit um die vergütungspflichtige Arbeitszeit nutzbar gemacht werden. Zu beachten ist dabei aber, dass die Aussagekraft eines solchen Systems im Einzelfall begrenzt sein kann: Die Qualifikation einer bestimmten Zeitspanne als Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitschutzrechts führt nämlich nicht zwingend zu einer Vergütungspflicht, wie umgekehrt die Herausnahme bestimmter Zeiten aus der Arbeitszeit nicht die Vergütungspflicht ausschließen muss (so etwa BAG vom 17. Oktober 2018, 5 AZR 553/17).
- Unterliegt die Zeiterfassung einem arbeitgeberseitigen Prüfprozess (in der BAG-Entscheidung: Abzeichnung der vom Arbeitnehmer selbst erfassten Arbeitszeit) wirkt sich dies – zumindest zunächst – dahingehend aus, dass der Arbeitgeber mit der Prüfung ohne Beanstandung der erfassten Zeiten eine sich daraus ergebende Überstundenleistung sowie die arbeitgeberseitige Veranlassung und Zurechnung streitlos stellt.
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- Dies ist bereits nach bisherigem Recht eine Darlegungs-Erleichterung für den Arbeitnehmer.
- Dass diese Darlegungs-Erleichterung erst recht bei einem den Vorgaben des EuGH entsprechenden Zeiterfassungssystem eingreifen wird, ergibt sich bereits daraus, dass ein solches Zeiterfassungssystem laut EuGH die Zahl der vom Arbeitnehmer tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sowie ihre zeitliche Lage und die über die gewöhnliche Arbeitszeit hinausgehende, als Überstunden geleistete Arbeitszeit objektiv und verlässlich ermitteln muss. Es wird unter so einem System also bereits bei der Zeiterfassung feststehen müssen, dass und in welchem Umfang Arbeitszeit des jeweiligen Arbeitnehmers angefallen ist sowie dass deren Anfall dem Arbeitgeber zuzurechnen ist.
- Bisher ist dem Arbeitgeber trotz dieser Darlegungs-Erleichterung möglich, vorzutragen, dass die beanstandungslos geprüften Arbeitsstunden doch nicht geleistet wurden (aus welchen Gründen und in welchem Umfang) bzw. dass der behauptete Saldo sich durch konkret darzulegenden Freizeitausgleich vermindert hat. Gleiches gilt ggf. für Anhaltspunkte, Vorgesetzte hätten an einer Manipulierung der Zeiterfassung mitgewirkt. Bei einem den Vorgaben des EuGH entsprechenden Zeiterfassungssystem wird solchen bisher denkbaren Einwänden des Arbeitgebers aber weitgehend der Anwendungsbereich genommen. Denn damit würde in der Regel feststehen, dass das konkrete Zeiterfassungssystem eben gerade nicht objektiv und verlässlich ist.
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- Als Ausnahme hiervon ist allenfalls noch die Manipulierung der Zeiterfassung gemeinsam mit Vorgesetzten o.ä. denkbar.
- Als weitere Ausnahme kann im Einzelfall wohl auch der Einwand angeführt werden, dass eine vom System erfasste Zeitspanne zwar als Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitschutzrechts, nicht aber als vergütungspflichtige Arbeitszeit zu qualifizieren sein soll.
Fazit und Beraterhinweis
Aus der Entscheidung des BAG vom 26. Juni 2019 (5 AZR 452/18) wird deutlich, dass die vom EuGH in seinem Urteil vom 14. Mai 2019 (C-55/18) angenommene Pflicht der Arbeitgeber zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu einer erleichterten Durchsetzung von deren Ansprüchen auf Überstundenvergütung führen wird.
Dieses Ergebnis sollte für manchen Arbeitgeber Anlass sein, bei der Einführung eines den Vorgaben des EuGH entsprechenden Zeiterfassungssystems darauf zu achten, welche Zeiten warum als Arbeitszeit des jeweiligen Arbeitnehmers erfasst werden. Die Schwierigkeit bei der Implementierung bzw. Anpassung eines Zeiterfassungssystems liegt danach mitnichten in Fragen der Form (elektronisch?) o.ä. Sie liegt vielmehr darin, was als dem Arbeitgeber zurechenbare (und vergütungspflichtige?) Arbeitszeit erfasst wird (und wer dies prüft und entscheidet), da der Arbeitgeber zu einem späteren Zeitpunkt nicht oder nur ausnahmsweise einwenden können wird, die erfasste Zeit sei nicht „richtig“.
Anm.: Dieser Blogbeitrag ist auch in leicht abgewandelter Form auch als Beitrag im Expertenforum Arbeitsrecht (#EFAR) erschienen.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de
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