Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob und inwieweit Arbeitgeber verpflichtet sind, die tägliche Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer zu erfassen. Aktueller Anlass hierfür sind die dies scheinbar bejahenden Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 31.1.2019 (C-55/18) zu einem Vorabentscheidungsersuchen des spanischen Nationalen Gerichtshofs. Die Ausführungen des Generalanwalts könnten auch für deutsche Betriebe relevant werden, wenn der EuGH dem Generalanwalt - wie zumeist - folgen sollte.
Schlussanträge des Generalanwalts
Im Wesentlichen hat der spanische Nationale Gerichtshofs, der über eine Verbandsklage von Gewerkschaften gegen die Deutsche Bank zu entscheiden hat, dem EuGH folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt: "Ist es für die Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz – Ziele, die die Richtlinie 2003/88/EG(2) u.a. durch die Festlegung von Höchstarbeitszeiten verfolgt, – erforderlich, dass die Mitgliedstaaten die Verpflichtung des Arbeitgebers vorsehen, Instrumente zur Messung der tatsächlichen täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit einzuführen?"
Der Generalanwalt hat dem EuGH im Ergebnis vorgeschlagen, wie folgt zu entscheiden:
- Die Vorgaben des europäischen Rechts (Art. 31 Abs. 2 der Grundrechte-Charta sowie Vorschriften der Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung) sind dahin auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten Unternehmen verpflichten müssen, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Arbeitnehmer einzuführen. Die Vorgaben des europäischen Rechts stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegen, aus denen eine solche Verpflichtung nicht abzuleiten ist. Das Fehlen von Mechanismen, die die effektive Einhaltung der Vorschriften über die Grenzen der Arbeitszeiten durch die Einführung von Systemen zur Messung der tatsächlich geleisteten Arbeit sicherstellt, beeinträchtigt nach Meinung des Generalanwalts nämlich die praktische Wirksamkeit der Vorgaben des europäischen Rechts.
- Ausweislich des Generalanwalts soll es den Mitgliedstaaten freistehen, die für die Erreichung der praktischen Wirksamkeit der mit den Vorgaben des europäischen Rechts verfolgten Ziele geeignetste Form der Erhebung der effektiven täglichen Arbeitszeit vorzusehen. Diese muss aber eben auch geeignet sein, die Ziele tatsächlich zu erreichen.
- Das jeweilige nationale Gericht hat jedoch zu prüfen, ob es ihm unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der von diesem anerkannten Auslegungsmethoden möglich ist, zu einer Auslegung des nationalen Rechts zu gelangen, die in der Lage ist, die volle Wirksamkeit der Vorgaben des europäischen Rechts sicherzustellen. Sollte es unmöglich sein, innerstaatliche Rechtsvorschriften in dieser Weise auszulegen, hat das vorlegende Gericht diese nationalen Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen und sich zu vergewissern hat, dass die Verpflichtung des Unternehmens, sich mit einem zur Messung der effektiven Arbeitszeit geeigneten System auszustatten, eingehalten wird. Der Generalanwalt schlägt also vor, auch bei eindeutig nicht im Sinne der europäischen Vorgaben auslegbaren nationalen Vorschriften diese schlichtweg nicht anzuwenden (entsprechend der EuGH-Rechtsprechung zum Urlaubsrecht).
In der Praxis gibt es viele deutsche Betriebe, die bisher keine Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Arbeitnehmer praktizieren.
Unabhängig von der Frage, ob das deutsche Recht eine korrekte Umsetzung der europäischen Vorgaben hinsichtlich der täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der wöchentlichen Höchstarbeitszeit usw. enthält, und unabhängig davon, ob der Entscheidungsvorschlag des Generalanwalts überzeugend begründet ist, wird nachfolgend einmal unterstellt, dass der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts folgt. Insoweit stellt sich die Frage, ob und inwieweit dies Auswirkungen auf das deutsche Recht und die betriebliche Praxis hätte.
Deutsches Recht
Wenn man einmal Spezialregelungen für bestimmte Bereiche, wie z.B. Berufskraftfahrer und Mindestlohn, außen vor lässt, lässt sich im deutschen Recht nur eine allgemein geltende Vorschrift finden, die eine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung vorsieht.
Dies Vorschrift ist § 16 Abs. 2 S. 1 Var. 1 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG). Danach ist der Arbeitgeber verpflichtet, "die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 S. 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen". Diese "Nachweise" sind mindestens zwei Jahre aufzubewahren (§ 16 Abs. 2 S. 2 ArbZG). § 3 S. 1 ArbZG gibt vor, dass die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden nicht überschreiten darf (Anm.: Art. 6 der Richtlinie 2003/88/EG stellt demgegenüber nicht auf eine tägliche, sondern auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit - 48 Stunden - ab).
Die Reichweite der Aufzeichnungspflicht in § 16 Abs. 2 S. 1 Var. 1 ArbZG ist umstritten. Wenn man sich strikt an den Gesetzeswortlaut hält, muss der Arbeitgeber zum einen die 8 Stunden überschreitende Arbeitszeit an Werktagen (inkl. Samstag) und zum anderen (vereinzelt aber auch umstritten) jede Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen aufzeichnen. Umstritten ist vor allem, ob die Aufzeichnungspflicht nur die vorgenannten Zeiten oder aber sämtliche Arbeitszeit, Pausen wie auch Ausgleichszeiten der Arbeitnehmer erfasst. Überwiegend wird vertreten, dass der Arbeitgeber nur die 8 Stunden überschreitende Arbeitszeit an Werktagen und jede Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen aufzeichnen muss (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 5.6.2013 - 8 Sa 571/12; VGH, Beschluss vom 26.10.2011 - 22 CS 11.1989; Baeck/Deutsch ArbZG, 3. Aufl. 2014, § 16 Rn. 24; BeckOK ArbR/Kock, 50. Ed. 1.12.2018, § 16 ArbZG Rn. 4; ErfK/Wank, 19. Aufl. 2019, § 16 ArbZG Rn. 4 mit Nachweisen zu abweichender Ansicht; siehe aber etwa den Erlass zur Durchführung des ArbZG des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes NRW vom 30. Dezember 2013, dort zu § 16: "Aufzeichnungspflichtig ist ebenfalls der nach § 3 erforderliche Ausgleich der Mehrarbeit durch Verkürzung der Arbeitszeit an anderen Tagen innerhalb des Ausgleichszeitraums.").
Einhellig wird vertreten, dass die zuständige Arbeitsschutzbehörde bei Verstößen gegen das ArbZG gegenüber dem Arbeitgeber anordnen kann, dass Aufzeichnungen zur täglichen Arbeitszeiten und Ruhepausenzeiten (jeweils mit Beginn und Ende) vorgenommen werden (BeckOK ArbR/Kock, 50. Ed. 1.12.2018, § 17 ArbZG Rn. 4.1 mit Nachweisen aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung). Diese Pflichten gingen zwar über die gesetzlichen Aufzeichnungspflichten nach § 16 Abs. 2 ArbZG hinaus. Diese seien jedoch nach § 17 Abs. 2 ArbZG "erforderliche Maßnahmen", um der Behörde zuverlässig die Nachprüfung zu ermöglichen, ob es beim Arbeitgeber zu Verstößen gegen das ArbZG gekommen ist.
Vor diesem Hintergrund erfüllt das deutsche Recht nach bisheriger Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG die vom Generalanwalt vorgesehene Vorgabe nicht, dass die Mitgliedstaaten Unternehmen verpflichten müssen, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Arbeitnehmer einzuführen. Auf Basis der Ausführungen des Generalanwalts zur Umsetzung wäre es möglich und zwingend geboten, eine entsprechende Verpflichtung in § 16 Abs. 2 ArbZG hineinzulesen.
Bewertung
Im Ergebnis muss abgewartet werden, ob der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwaltes folgen wird. In den meisten Fällen folgt der EuGH den Schlussanträgen jedoch.
Sollte der EuGH entscheiden, dass das europäische Recht dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten die Unternehmen verpflichten müssen, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Arbeitnehmer einzuführen, würde dies in vielen Betrieben relevant werden, die eine solche Erfassung bisher nicht praktizieren.
Im Ergebnis könnten (und würden) gegebenenfalls bestehende Betriebsräte (aufgrund ihrer Überwachungsaufgabe nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) und/oder auch die jeweils zuständige Arbeitsschutzbehörde (Letztere sogar unabhängig von Anordnungen im Einzelfall) die generelle Einführung und Durchführung eines solchen geeigneten Arbeit Zeiterfassungssystems verlangen. Da solche Systeme heutzutage regelmäßig als technische Einrichtungen geführt werden, hätte ein bestehender Betriebsrat bei der Einführung und Ausgestaltung zudem ein Mitbestimmungsrecht (vgl. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG).
Auch die einzelnen Arbeitnehmer könnten geltend machen, dass für ihr Arbeitsverhältnis eine solche Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit erfolgen muss. Schließlich hat der Generalanwalt seine Ansicht ausdrücklich auch damit begründet, dass es auch den einzelnen Arbeitnehmern dadurch möglich sein soll, ihre Rechte effektiv durchzusetzen. Unter anderem war insoweit davon die Rede, dass die Arbeitnehmer nur so Überstunden praktisch wirksam nachweisen könnten. Zumindest im Streitfall würden sich einzelne Arbeitnehmer eine solche Auslegung durch den EuGH zunutze machen wollen. Diese dürfte wohl nämlich zur Folge haben, dass bei einem Streit über den Anfall von Überstunden eine Beweislastumkehr bzw. Beweiserleichterung zugunsten der Arbeitnehmer angenommen werden würde, wenn ein geeignetes System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit der Arbeitnehmer nicht besteht.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de
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