Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
In einer aktuellen Entscheidung hat der EuGH auf Vorlage des BAG über eine in der Praxis bereits mit Spannung erwartete Frage entschieden: Verfällt der vom Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums nicht (komplett) genommene Urlaub, obwohl er genommen werden konnte? Die Frage stellt sich auch, wenn der Urlaub bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommen wird.
EuGH vom 6.11.2018 – C-684/16
Im Blogbeitrag BAG fragt EuGH: Pflicht des Arbeitgebers, Urlaub von sich aus zu gewähren? hatten wir den Vorlagebeschluss des BAG vom 13.12.2016 – 9 AZR 541/15 (A) vorgestellt. Darin fragte das BAG den EuGH vor allem, ob der Arbeitgeber verpflichtet ist, von sich aus einseitig und für den Arbeitnehmer verbindlich den Urlaub festzulegen. Eine Bejahung dieser Frage hätte zur Folge, dass der Urlaub bei Nichtgewährung auch dann nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer zuvor keinen Urlaub beantragt hatte. Dies haben bereits mehrere Landesarbeitsgerichte vertreten (vgl. LAG Köln vom 22.4.2016, 4 Sa 1095/15; LAG München vom 6.5.2015, 8 Sa 982/14; LAG Berlin-Brandenburg vom 12.6.2014, 21 Sa 221/14). Die Vorlage des BAG an den EuGH war folgerichtig, da der EuGH zur Auslegung europäischen Rechts berufen ist.
Und im Blogbeitrag (Keine?) Pflicht des Arbeitgebers, Urlaub von sich aus zu gewähren: Wie wird der EuGH entscheiden? hatten wir die Frage behandelt, wie der EuGH über diese Vorlagefrage des BAG voraussichtlich entscheiden wird, nachdem in der Literatur darauf hingewiesen worden ist, dass sich aus der Entscheidung des EuGH vom 29.11.2017 – C-214/16 (King) bereits entnehmen lasse, wie der EuGH die Frage beantworten wird.
Nunmehr hat der EuGH über die Vorlagefrage des BAG wie folgt entschieden:
- Hat ein Arbeitnehmer im betreffenden Bezugszeitraum (Urlaubsjahr bzw. Übertragungszeitraum) keinen Antrag auf Gewährung des bezahlten Jahresurlaub gestellt, kann er am Ende dieses Bezugszeitraums den ihm zustehenden Urlaub nicht automatisch und ohne vorherige Prüfung verlieren, ob er vom Arbeitgeber z.B. durch angemessene Aufklärung auch tatsächlich in die Lage versetzt wurde, den Urlaub zu nehmen. Gleiches gilt für den Anspruch auf eine finanzielle Abgeltung des bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaubs.
- Das gesamte innerstaatliche (hier: deutsche) Recht ist unter Anwendung der darin anerkannten Auslegungsmethoden möglichst so auszulegen, dass die volle Wirksamkeit des europäischen Unionsrechts (hier: Recht auf bezahlten Jahresurlaub im Umfang von vier Wochen) gewährleistet werden kann.
- Aus Art. 31 Abs. 2 der europäischen Grundrechtecharta ergibt sich, dass dies auch in einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem (früheren) privaten Arbeitgeber gilt. Dass nationale (hier: deutsche) Gericht hat auch bei privaten Arbeitgebern eine entgegenstehende nationale Regelung unangewendet zu lassen.
- Das nationale (hier: deutsche) Gericht hat insoweit dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Urlaub bzw. Urlaubsabgeltung nicht verliert, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen.
Folgende Kernaussagen des EuGH sind hervorzuheben:
- Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, den Arbeitnehmer dazu zu zwingen, den Urlaub tatsächlich zu nehmen.
- Es reicht aus (ist aber auch notwendig), dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in die Lage versetzt, den Urlaub zu nehmen.
- Der Arbeitgeber ist verpflichtet, konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, den Urlaub zu nehmen, und ihm, damit sichergestellt ist, dass der Urlaub ihm noch die Erholung und Entspannung bieten kann. Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird. Die Beweislast trägt insoweit der Arbeitgeber.
- Ist der Arbeitgeber hingegen in der Lage, den ihm insoweit obliegenden Beweis zu erbringen, und zeigt sich daher, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht europäisches Unionsrecht dem Verlust des Urlaubsanspruchs (bzw. bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Urlaubsabgeltungsanspruchs) nicht entgegen.
Bewertung
Im Ergebnis müssen Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer also rechtzeitig und (unmiss)verständlich darüber aufklären bzw. darauf hinweisen, dass ihr Urlaub verfallen wird, wenn sie ihre Urlaubswünsche nicht rechtzeitig äußern (= Urlaubsantrag stellen), so dass eine Urlaubsgewährung rechtzeitig erfolgen kann. Dies ist vorsorglich auch mit der konkreten Aufforderung zu verbinden. All dies sollte arbeitgeberseitig nachgewiesen werden können. Eine "zwangsweise" Urlaubsgewährung verlangt der EuGH dann aber ausdrücklich nicht. Voraussetzung bleibt aber auch weiterhin, dass eine Urlaubsgewährung möglich ist, was etwa bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht der Fall ist. Der EuGH hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht allein auf die formelle (unterlassene) Stellung eines Urlaubsantrags abgestellt werden darf.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de
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