Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
Eine vor Kurzem in einem Kündigungsschutzverfahren ergangene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Schleswig-Holstein (Urteil vom 29.06.2017 – 5 Sa 5/17) befasst sich mit der sog. vorweggenommenen Abmahnung. Anhand dieser Entscheidung wird aufgezeigt, worum es sich bei der vorweggenommenen Abmahnung handelt und welche Wirkungen sie überhaupt haben kann.
Der Fall:
Der Arbeitnehmer hatte am 8.4.2014 eine „Verpflichtungserklärung zur Einhaltung des Verbots der Privatnutzung von Dienstfahrzeugen“ unterschrieben, die u.a. auch folgenden Wortlaut hat: „Ich bin darüber belehrt worden, dass ein Verstoß gegen diese Anordnung arbeitsrechtliche Folgen (Ermahnung / Abmahnung / Kündigung / o. a.) haben wird."
Am 3.3.2016 veranlasste der Arbeitnehmer, dass ein Mitarbeiter anlässlich einer dienstlich veranlassten Fahrt mit einem Dienstfahrzeug das private Sakko des Arbeitnehmers aus einer Reinigung abholte. Am 3.5.2016 ließ sich der Arbeitnehmer, weil sein Pkw defekt war, von einem Auszubildenden mit einem Dienstfahrzeug von zuhause zur Dienststelle fahren und auch wieder zurückbringen. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis daraufhin außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich wegen Verstoßes gegen das Verbot der Privatnutzung von Dienstfahrzeugen.
Die Entscheidung des LAG:
Wie bereits das Arbeitsgericht hat auch das LAG die Kündigungen als unwirksam angesehen. Zwar habe der Arbeitnehmer gegen das Verbot der Privatnutzung von Dienstfahrzeugen verstoßen (Verletzung der vertraglichen Nebenpflicht zur Rücksichtnahme aus § 241 Abs. 2 BGB).
Allerdings hat das LAG die Kündigungen für unverhältnismäßig gehalten. Die Arbeitgeberin hätte den Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigungen abmahnen müssen. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass das künftige Verhalten eines Arbeitnehmers schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden könne. Einer Abmahnung bedürfe es nur dann nicht, wenn bereits von vornherein erkennbar sei, dass eine künftige Verhaltensänderung des Arbeitnehmers auch nach Abmahnung nicht zu erwarten stehe, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handele, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen sei.
Das LAG würdigte die konkreten Einzelfallumstände und erkannte auf dieser Grundlage, dass eine Abmahnung des Arbeitnehmers nach den genannten Grundsätzen vorliegend nicht entbehrlich war. In diesem Zusammenhang ging das LAG auch auf den Einwand der Arbeitgeberin ein, der Arbeitnehmer sei in der von ihm unterschriebenen Verpflichtungserklärung gewarnt worden, woraus sich die Entbehrlichkeit der Abmahnung ergebe. Daran kann man zwar bereits berechtigte Zweifel haben, da dort als mögliche arbeitsrechtliche Folgen auch Ermahnung und Abmahnung genannt sind, so dass sich eine Entbehrlichkeit der Abmahnung daraus eben gerade nicht erschließt. Das LAG unterstellte zu Gunsten der Arbeitgeberin aber sogar, dass darin eine sog. "vorweggenommene" Abmahnung zu sehen sei. Jedoch hielt es diese nicht für geeignet, eine konkrete Abmahnung zu ersetzen. Dabei wandte das LAG folgende Grundsätze an:
- Die sogenannte vorweggenommene Abmahnung enthält lediglich den generellen Hinweis des Arbeitgebers, dass bestimmte, in der Regel genau bezeichnete Pflichtverletzungen, zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen von einer Ermahnung bis hin zur fristlosen Kündigung führen können.
- Eine solche vorweggenommene Abmahnung genügt grundsätzlich nicht den Anforderungen einer Abmahnung.
- Die von einer solchen vorweggenommenen Abmahnung ausgehende Warn- und Hinweisfunktion ist nicht vergleichbar mit derjenigen, die von einer konkreten förmlichen Abmahnung ausgeht. Anders als bei einer förmlichen Abmahnung kann im Anschluss an eine vorweggenommene Abmahnung in der Regel gerade nicht davon ausgegangen werden, dass bei einer danach begangenen erneuten Pflichtverletzung eine negative Prognose für das künftige Verhalten gegeben ist.
- Eine solche vorweggenommene Abmahnung kann eine Abmahnung nach Tatbegehung ausnahmsweise aber dann ersetzen, wenn sich die Pflichtverletzung letztlich unter Berücksichtigung des vorweggenommenen Fingerzeigs als beharrliche Arbeitsverweigerung herausstellt.
Beraterhinweise:
Das LAG wandte vorliegend Grundsätze an, die vorher bereits im Wesentlichen auch von anderen LAG angewandt worden sind (vgl. LAG Hamm, Urteil vom 12.9.1996 – 4 Sa 486/96; LAG Hamm, Urteil vom 21.10.1997 - 4 Sa 707/97; LAG Hamm, Urteil vom 3.4.2008 – 15 Sa 2149/07; LAG Düsseldorf, Urteil vom 15.8.2012 - 12 Sa 697/12; ursprünglich für Arbeitgeber großzügiger, da eine Warnfunktion sogar bejahend: LAG Köln, Urteil vom 12.11.1993, 13 Sa 726/93; LAG Hamm, Urteil vom 16.12.1982 - 10 Sa 965/82). Soweit ersichtlich, gibt es vom Bundesarbeitsgericht (BAG) bisher nur eine kurze Bezugnahme auf die sog. vorweggenommene Abmahnung in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 (BAG, Urteil vom 5.4.2001 - 2 AZR 580/99). Darin hat das BAG die entsprechenden Ausführungen der Vorinstanz (LAG Hamm, Urteil vom 12.9.1996 – 4 Sa 486/96), bestätigt. Die Vorinstanz hatte die vorliegend auch vom LAG Schleswig-Holstein angewandten Grundsätze angewandt (beharrliche Arbeitsverweigerung des Arbeitnehmers trotz vorheriger Androhung einer fristlosen Kündigung, falls der Arbeitnehmer seiner Arbeitspflicht zeitnah nicht nachkomme).
Eine sog. vorweggenommene Abmahnung ist somit kein "Allheilmittel" für Arbeitgeber, die sich an dem Erfordernis der vorherigen, einschlägigen Abmahnung "stören". Es ist nicht möglich (auch nicht durch Vereinbarung), gewissen Pflichtverletzungen das Gewicht sog. absoluter Kündigungsgründe zu verleihen. Die vorweggenommene Abmahnung ist aber auch nicht bedeutungslos, da sie bei schweren Pflichtverletzungen die Interessenabwägung zu Lasten des Arbeitnehmers beeinflussen kann. Sie kann in solchen Fällen die Darlegung der Entbehrlichkeit der Abmahnung erleichtern, nämlich dass (auch) aus der vorweggenommenen Abmahnung ersichtlich ist, dass bereits die erstmalige Hinnahme der Pflichtverletzungen dem Arbeitgeber unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen war. Im Zweifel bleibt aber weiterhin erforderlich, dass eine oder gar mehrere Abmahnungen konkreter Pflichtverletzungen erfolgen.
Bei der Formulierung einer sog. vorweggenommenen Abmahnung ist darauf zu achten, dass tatsächlich (nur) die (ordentliche und ggf. außerordentliche) Kündigung des Arbeitsverhältnisses für konkrete (!) Pflichtverletzungen angedroht wird. Die in der Praxis (z.B. in Compliance-Richtlinien) immer wieder anzutreffende allgemeine Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen oder gar die Aufzählung auch anderer Sanktionen als der Kündigung - und insbesondere der Abmahnung - sind erkennbar ungeeignet, zu einer Entbehrlichkeit der Abmahnung zu führen.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de
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